Ein Leitfadeninterview ist eine qualitative Forschungsmethode, die es ermöglicht, tiefgründige Informationen und individuelle Perspektiven von Teilnehmern zu einem spezifischen Thema zu erhalten. Für den Erfolg ist besonders die sorgfältige Erstellung des Leitfadens entscheidend. In diesem Beitrag erfährst du, wie du dein Leitfadeninterview effektiv planst, durchführst und auch auswertest.
Definition: Leitfadeninterview
Das Leitfadeninterview ist eine Methodik der qualitativen Sozialforschung, bei der anhand eines vorbereiteten Leitfadens ein Interview geführt wird. Durch den vorbereiteten Leitfaden weiß der Interviewer, welche Fragen er stellen oder Themen er ansprechen muss. Dennoch gewährt der Leitfaden die notwendige Flexibilität, um auf die Antworten der Befragten einzugehen, Nachfragen zu stellen und das Gespräch flexibel zu gestalten.
Demzufolge ist das Leitfadeninterview ein offenes Interview. Das Ziel eines Leitfadeninterviews ist es, detaillierte Informationen, Meinungen und Einstellungen zu einem bestimmten Forschungsgegenstand aus der Perspektive der Interviewten zu erfassen. In der folgenden Tabelle sind die wichtigsten Merkmale eines Leitfadeninterviews aufgelistet.
Erklärung | |
Persönlich | Kein Ablesen von Fragen, spontane Erzählungen priorisieren und die Anzahl von Fragen (max. vier größere Frageblöcke) pro Interview begrenzen. |
Leitfaden soll nur Orientierungshilfe sein und sich am „natürlichen“ Erinnerungs- und Argumentationsfluss orientieren, damit es offener ist. | |
Offene Fragen | Berücksichtigung der Grundprinzipien qualitativer Sozialforschung, vor allem des Prinzips der Offenheit und Flexibilität. |
Neutralität | Keine wertenden Aussagen zu den Antworten, sondern wertschätzende Haltung seitens des Interviewers während des Leitfadeninterviews. |
Einzelinterviews | Aufgrund der manchmal sensiblen Inhalte sollen die Gespräche unter vier Augen stattfinden (mehr Teilnehmer = Gruppeninterview). |
Tipp: Die vier Schritte Sammeln, Prüfen, Sortieren und Subsumieren (SPSS) können dir bei der Erstellung deines Interviewleitfadens helfen.
- Sammeln von möglichst vielen Fragen.
- Prüfen der Fragen mit dem Ziel einer Reduzierung und Strukturierung.
- Sortieren der verbleibenden Fragen nach inhaltlicher Logik.
- Subsumieren der einzelnen Fragen unter einfachen Erzählaufforderungen.
Verschiedene Interviewformen
Im Leitfadeninterview wird Struktur mit Flexibilität verbunden, indem der Interviewer einem festgelegten Fragenkatalog folgt, der dem Gespräch eine klare Richtung gibt, gleichzeitig kann er aber auch spontan auf die Antworten eingehen.
Durch diese Balance zwischen Vorgaben und Offenheit zählt das leitfadengestützte Interview als semistrukturiertes Interview. Im Folgenden werden dir die Unterschiede zwischen dem strukturierten Interview, dem semistrukturierten Interview und dem unstrukturierten Interview aufgezeigt.
Die unterschiedlichen Interviewformen sind:
- strukturierte Interviews: fest vorgegebener Wortlaut und Reihenfolge der Fragen
- semistrukturierte Interviews: vorgegebener Wortlaut und Reihenfolge, Improvisationen möglich
- unstrukturierte Interviews: abgesehen vom Forschungsthema ist alles frei
Durchführung
Die Durchführung eines Leitfadeninterviews erfolgt in vier Schritten.
1. Leitfragen erstellen
Im ersten Schritt erstellst du den Leitfaden, indem du Fragen sammelst und sie sortierst. Außerdem musst du noch Fragen für die Vergleichbarkeit zusammenstellen, dazu eignet sich etwa eine Frage nach dem Alter.
Achte zudem darauf, dass du nicht zu viele Fragen stellst und die Fragen nicht geschlossen oder als Entweder-oder-Fragen formuliert sind. Die Reihenfolge der Fragen im Leitfadeninterview orientiert sich am Erzählfluss.
Schritt 1: Eröffnungsfrage
Das Interviewgespräch kann am besten mit einer Eröffnungsfrage begonnen werden. Sie dient als sanfter Einstieg in das Interview Thema und hilft, die Atmosphäre zu entspannen. Des Weiteren hilft die Eröffnungsfrage, schrittweise zum Hauptthema des Interviews überzuleiten.
Schritt 2: Zentraler Teil
Im zentralen Teil erstellst du eine Liste mit Fragen, die sich auf dein spezifisches Thema beziehen. An diesem Punkt solltest du alle Fragen und Themenbereiche zusammentragen, die für dein festgelegtes Thema von Bedeutung sind. Du kannst dich auch an der unteren Liste mit Fragetypen orientieren.
Schritt 3: Abschluss und Reflexion
Am Ende des Interviews solltest du eine abschließende Frage in den Leitfaden integrieren, die dazu dient, das Gespräch abzurunden. Zudem fasst du kurz die diskutierten Punkte zusammen und drückst deine Dankbarkeit für die investierte Zeit der interviewten Person aus.
2. Person auswählen
Achte bei der Wahl der befragten Person für dein Leitfadeninterview darauf, dass du besonders interessante Fälle wählst. Nimm danach Kontakt zu der jeweiligen Person auf und vereinbare einen Termin.
Wichtig ist außerdem, dass du deine Auswahl nicht nur aus deinem Bekanntenkreis triffst. So vermeidest du eine Verzerrung der Antworten. Zusätzlich ist es ratsam, offen gegenüber Fällen zu sein, die von der eigenen Vorstellung abweichen können.
3. Datenerfassung
Wähle für dein Leitfadeninterview eine für die befragte Person vertraute Umgebung.
Zudem ist es wichtig, dass du dir eine Einwilligungserklärung für das Interview einholst. Auch eine Audio- oder Videoaufnahme des Interviews muss vom Interviewten genehmigt werden.
Bevor das Gespräch beginnt, noch die Technik überprüfen, um sicherzugehen, dass die Aufnahme auch funktioniert. Es ist ratsam, dass du dich der befragten Person bezüglich des Kleidungsstils und Sprachniveaus anpasst. Vermeide zudem Befragungsmerkmale wie Suggestivfragen und stelle immer nur eine Frage auf einmal.
4. Datenanalyse
Um die Daten eines Leitfadeninterviews analysieren zu können, musst du eine Audiotranskription anfertigen.
Entwickle zuerst Hauptkategorien, damit du einen Überblick über verschiedene Thematiken bekommst. Danach kannst du nach dem Sammeln und Auswerten der Daten Subkategorien entwickeln, damit das gesamte Material auf die Haupt- und Subkategorien codiert werden kann.
Im Anschluss daran können die Ergebnisse des Leitfadeninterviews visualisiert werden. Es ist wichtig, dass du genügend Zeit für die Auswertung einplanst, da dieser Teil sehr zeitintensiv sein kann, denn für 10 Stunden Interview-Material braucht man meistens 60 bis 80 Stunden zum Transkribieren.
Du kannst auch eine Transkriptionssoftware zur Hilfe nehmen, damit du nicht alles allein transkribieren musst. Die folgende Abbildung zeigt dir nochmal anschaulich alle sieben Schritte, damit die Auswertung deines Leitfadeninterviews problemlos verläuft.
Formulierung
Grundsätzlich wird bei Fragetypen zwischen offenen und geschlossenen Fragen unterschieden. In einem Leitfadeninterview solltest du überwiegend offene Fragen verwenden, denn diese geben die Antworten nicht vor, wodurch sie auch nicht in ein vorgegebenes Schema eingeordnet werden können.
Am folgenden Beispiel kannst du den Unterschied zwischen offenen und geschlossenen Fragen und deren Wirkung auf den Informationsgehalt deutlich erkennen.
Fragetypen für das Leitfadeninterview
Nachstehend sind die wichtigsten Fragetypen aufgelistet, damit du weißt, wann du welche Frage in deinem Leitfadeninterview einsetzen solltest.
Nachfrage
Eine Nachfrage dient dazu, weitere Informationen zu einer vorherigen aussage zu erlangen.
Aufrechterhaltungsfrage
Damit kann das Gespräch aufrecht gehalten werden oder es können mehr Informationen gesammelt werden.
Erzählimpuls
Kann entweder zu Beginn des Interviews oder wenn das Gespräch ins Stocken kommt, eingesetzt werden. Dabei ist es wichtig, dass die Frage zwar offen, aber konkret gestellt wird.
Steuerungsfrage
Eignet sich, wenn das Gespräch auf die Fragestellung (zurück) gelenkt werden soll und um gezielte Informationen zur Forschungsfrage zu sammeln.
Konfrontation
Damit können (scheinbare) Widersprüche im Gesprächsverlauf aufgezeigt werden.
Hypothetische Frage
Verwendet eine theoretische Situation, in die sich der Befragte hineinversetzen soll. Kann den Fokus weg vom Problem und hin zu einer Lösung lenken.
Zirkuläre Frage
Eignet sich, um die Perspektive des Befragten zu erweitern und eine neue Sichtweise zu eröffnen.
Paradoxe Frage
Durch ein scheinbares Paradoxon in der Fragestellung können die Gründe eines Problems verdeutlicht werden.
Vor- und Nachteile
Das Leitfadeninterview als qualitative Forschungsmethode bietet sowohl Vor- als auch Nachteile, die auch Auswirkungen auf die späteren Forschungsergebnisse haben. Folgende Tabelle zeigt die Vor- und Nachteile:
Vorteile | Nachteile |
Flexibilität | Gefahr, dass Interviewer am Leitfaden „klebt“ |
Höhere Vergleichbarkeit durch Einsatz von Leitfaden | Geringe Vergleichbarkeit der Ergebnisse |
Geringe Beeinflussung des Befragten | Zeitaufwand bei der Auswertung |
Gute Erfassung der Sichtweise von Befragten | Möglicher Einfluss des Interviewers auf Befragten |
Hoher Informationsgewinn | Höhere Anforderungen an den Interviewer |
Strukturierung/Orientierung der Interviewsituation | Gefahr, dass eine Frage-Antwort-Situation entsteht |
Häufig gestellte Fragen
Ein Leitfadeninterview ist eine Interviewform, bei der der Interviewer anhand eines vorab erstellten Leitfadens thematische Fragen stellt. Es bietet Flexibilität, da der Interviewer auf spontane Antworten eingehen kann, während gleichzeitig sichergestellt wird, dass alle relevanten Themen abgedeckt werden. Diese Methode wird häufig in qualitativer Forschung verwendet.
Ein Leitfadeninterview eignet sich besonders, wenn tiefgründige Informationen, Meinungen oder Erfahrungen zu einem spezifischen Thema gesammelt werden sollen. Es ist ideal, wenn die Forschungsfrage offene Antworten erfordert und der Forscher an den nuancierten Perspektiven der Befragten interessiert ist, während gleichzeitig ein gewisser Rahmen gewahrt bleiben soll, um die Vergleichbarkeit der Interviews zu sichern.
Um ein Leitfadeninterview durchzuführen, bereitest du zunächst einen detaillierten Fragenkatalog vor, der als Leitfaden dient und sicherstellt, dass alle relevanten Themenbereiche abgedeckt werden. Während des Interviews folgst du diesem Leitfaden, lässt den Befragten jedoch genügend Raum, um ihre Gedanken ausführlich zu äußern, und bist offen für Abweichungen vom entwickelten Leitfaden, wenn sie tiefergehende Einblicke versprechen. Es ist wichtig, eine offene und vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, um ehrliche und detaillierte Antworten zu fördern.
Leitfadeninterviews bieten den Vorteil, dass sie tiefe und detaillierte Einblicke in individuelle Perspektiven, Meinungen und Erfahrungen ermöglichen, die in standardisierten Befragungen möglicherweise nicht zum Vorschein kommen. Durch die flexible Struktur können Forschende gezielt auf interessante Punkte eingehen und gleichzeitig sicherstellen, dass alle relevanten Aspekte des Themas behandelt werden. Diese Methode fördert ein umfassendes Verständnis komplexer Sachverhalte und ermöglicht eine hohe Anpassungsfähigkeit an die Bedürfnisse der Forschung.
Experteninterviews konzentrieren sich auf das Sammeln von spezialisiertem Wissen und Einsichten von Personen, die auf einem bestimmten Gebiet als Experten gelten, und sind oft auf die Erhebung sehr spezifischer Informationen ausgerichtet. Leitfadeninterviews hingegen sind breiter angelegt und können mit einer Vielzahl von Teilnehmern durchgeführt werden, um ein umfassendes Verständnis zu verschiedenen Themen zu gewinnen, wobei der Leitfaden Flexibilität in der Gesprächsführung bietet. Der Hauptunterschied liegt also im Fokus und in der Zielgruppe der Interviews.