Die Synästhesie ist ein literarisches Stilmittel, das die künstlerische Verschmelzung und Überkreuzung von verschiedenen Sinneseindrücken beschreibt. Dieses Stilmittel kennzeichnet die Beschreibung einer Sinneserfahrung durch die Begriffe eines anderen Sinnes. Eine häufige Verknüpfung ist die sogenannte „audition colorée“, das Farbenhören. Dabei werden Klänge und Musik in Farben umgesetzt.
Definition: Synästhesie
Die Synästhesie tritt als rhetorisches Mittel, aber auch als sprachliches Mittel, auf. Der Begriff hat seine Wurzeln in der griechischen Sprache. Dort bedeutet „syn“ „zusammen“ und „aisthesis“ „Empfindung“. In der Literaturwissenschaft bezeichnet die Synästhesie die Beschreibung einer Sinneswahrnehmung in den Begriffen eines anderen Sinnes, wie beispielsweise die Verbindung „warme Farben“ oder „schreiende Farben“.
Erstmals verwendet wurde das Stilmittel in der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts, vor allem im Symbolismus und in der Romantik. In der modernen Literatur wird die Synästhesie weiterhin als Stilmittel verwendet, um die Grenzen der Sprache zu erweitern und um tiefgründigere und mehrdimensionale literarische Bilder zu schaffen.
Ein Beispiel für dieses Stilmittel in der Poesie ist das „Sehen“ von Tönen oder das „Hören“ von Farben.
Synästhesie als psychische Besonderheit
Neben dem Stilmittel bezeichnet der Begriff „Synästhesie“ auch ein psychisches oder neurologisches Phänomen, wobei bei Betroffenen die normalerweise getrennten Sinneswahrnehmungen aneinander gekoppelt sind. Somit wird die bei dem Stilmittel beschriebene Verschmelzung von Sinneswahrnehmungen von Synästhetikern gleichzeitig mit mehreren Sinnen empfunden.
Diese Fähigkeit, sinnliche Wahrnehmungen auf diese Weise zu verknüpfen, besitzen nur rund 4 % der gesamten Weltbevölkerung. Dabei handelt es sich um keine Krankheit oder neurologische Störung, sondern um eine Sonderform der sinnlichen Wahrnehmung, die besonders bei kreativen und hochbegabten Menschen auftritt.
Merke: Dieser Beitrag befasst sich primär mit dem Stilmittel „Synästhesie“ und nicht mit dem gleichnamigen psychologischen Zustand. Daher beziehen sich die Kapitel (außer es wird zu Beginn des Kapitels angemerkt) auf das Stilmittel.
Beispiele
Die Synästhesie als literarisches Stilmittel wird verwendet, um einzigartige sensorische Erfahrungen zu vermitteln, indem es die gewöhnlichen Grenzen zwischen den einzelnen Sinneswahrnehmungen überschreitet. Die folgenden Beispiele sollen veranschaulichen, dass verschiedene Sinne miteinander kombiniert werden können:
Erklärung: In diesem Beispiel werden die Sinne Fühlen und Hören zu einem Ausdruck verschmolzen. Das taktile Adjektiv „eisig“ wird verwendet, um das auditive Nomen „Stille“ zu beschreiben.
Erklärung: Hier wird der auditive Begriff „Worte“, die normalerweise gehört werden, mit den Begriffen „schmecken“ und „bitter“ kombiniert, die den Geschmackssinn beschreiben.
Erklärung: In diesem Beispiel werden der Geruchssinn („Duft“) und der visuelle Sinn („violettfarbiges Bild“) miteinander kombiniert. Es kommt zu einer Verschmelzung von Riechen und Sehen.
Erklärung: Hierbei wird das Nomen „Licht“, welches ein visuelles Konzept beschreibt, mit dem auf den auditiven Sinn ausgerichteten Begriff „flüstern“ kombiniert.
Wirkung
Die Synästhesie kann als Stilmittel verschiedene Wirkungen erzeugen und beim Leser oder Hörer hervorrufen. Die häufigsten Wirkungen werden im Folgenden erklärt.
Erzeugung intensiver Bilder
Durch die Vermischung der Sinne entstehen unerwartete und eindrucksvolle Bilder, die stärker im Gedächtnis bleiben. Diese bildhafte Sprache kann abstrakte Konzepte greifbar machen und die Vorstellungskraft anregen.
Wirkung: Dieses Bild verknüpft das Visuelle („Grün des Waldes“) mit dem Auditiven („Melodie“) und erzeugt ein lebhaftes, fast spürbares Bild der Szene.
Verstärkung emotionaler Ausdrücke
Die Synästhesie kann Emotionen verstärken, indem sie eine tiefere sensorische Ebene anspricht. Zum Beispiel kann die Beschreibung eines „schreienden Rot“ starke Gefühle wie Leidenschaft oder Wut hervorrufen.
Wirkung: Das Lachen (auditiv) wird mit einer Farbe (visuell) verbunden, was die Fröhlichkeit und Leichtigkeit der Emotion intensiviert.
Schaffung einer einzigartigen Atmosphäre
Durch die Kombination unterschiedlicher Sinneswahrnehmungen kann das Stilmittel eine besondere Stimmung oder Atmosphäre erzeugen, die mit einer herkömmlichen Beschreibung schwer erreichbar wäre.
Wirkung: Die Verbindung von Stille (auditiv) mit einer haptischen Empfindung („fühlen“) schafft eine greifbare und intensive Atmosphäre.
Erhöhung der Immersion
Wenn Leser mit ungewöhnlichen, synästhetischen Beschreibungen konfrontiert werden, können sie sich tiefer in die Welt der Erzählung hineinversetzen. Dies kann zu einer intensiveren Erfahrung führen.
Wirkung: Die Lesenden werden in eine Welt gezogen, in der auditive („Flüstern“) und taktile („fühlen“) Sinneswahrnehmungen verschmelzen.
Symbolische Bedeutung
Synästhetische Bilder können symbolisch eingesetzt werden, um komplexere Themen oder Ideen zu vermitteln. Sie können metaphorisch genutzt werden, um tiefere Bedeutungsebenen zu erschließen.
Wirkung: Die Beschreibung verbindet Visuelles („golden“) mit Auditivem („Stimme“) und verleiht der „Stimme“ einen symbolischen Charakter durch die Farbe „Gold“.
Synästhesie und Metapher
Synästhesie und Metapher sind beide literarische Stilmittel, die dazu dienen, die Ausdruckskraft der Sprache zu erweitern, allerdings fungieren sie dabei auf unterschiedliche Weise und erfüllen verschiedene Zwecke:
Stilmittel
Definition
Zweck
Verknüpfung von unterschiedlichen Sinneswahrnehmungen.
Intensivierung und Versinnlichung von Emotionen, Sinnesmodalitäten und Atmosphären.
Metapher
Direkter Vergleich zwischen zwei unähnlichen Dingen.
Bildliche Darstellung von (abstrakten) Konzepten oder Ideen zum leichteren Verständnis.
Obwohl die beiden Stilmittel auf unterschiedlichen Vorgehen beruhen, existiert zwischen den beiden eine Gemeinsamkeit. Sowohl Synästhesie als auch Metaphern nutzen ungewöhnliche Verbindungen oder Vergleiche, um kreative und bildhafte Ausdrücke zu schaffen.
Der Unterschied zwischen den beiden Stilmitteln besteht darin, dass die Synästhesie unterschiedliche Sinneseindrücke verknüpft, während Metaphern in der Regel darauf abzielen, ein abstraktes Konzept durch den bildlichen Vergleich mit etwas Konkretem zu veranschaulichen.
Es ist festzuhalten, dass trotz naher Verwandtschaft beider Stilmittel, die Verwendung einer Synästhesie spezifischer ist. Es können jedoch beide Stilmittel gemeinsam eingesetzt werden, um so die sprachliche Ausdruckskraft zu steigern und den Lesenden tiefere und vielschichtigere Bedeutungen zu vermitteln.
Wissenschaftliches Schreiben
Die Synästhesie hat im Kontext des wissenschaftlichen Schreibens keine Relevanz. Da das Stilmittel vorwiegend dazu verwendet wird, um Emotionen und Sinneswahrnehmungen verstärkt darzustellen, was im wissenschaftlichen Kontext keine Rolle spielt, findet die Synästhesie hierbei keine Verwendung.
Als Ausnahme gelten Disziplinen, in denen sprachliche Besonderheiten als Untersuchungsgegenstand dienen oder literarische Texte verfasst werden müssen. In diesen Fällen kann die Synästhesie im wissenschaftlichen Kontext auftreten, allerdings muss sie in den meisten wissenschaftlichen Arbeiten vermieden werden.
Formen
Im Folgenden werden unterschiedliche Formen der Synästhesie beschrieben. Diese Formen sind Bestandteil der psychologischen Synästhesie. Jedoch spiegeln sich die häufigsten Formen auch in der literarischen Verwendung als Stilmittel wider, denn die am häufigsten auftretenden psychologischen Formen werden auch häufig in der Literatur verwendet.
- Graphem-Farb-Synästhesie
Bei dieser Form sehen Menschen bestimmte Buchstaben oder Zahlen in spezifischen Farben. Die Zeichen können dabei immer in derselben Farbe erscheinen.
- Tonk-Farb-Synästhesie
Hierbei werden Klänge, Musik oder Töne als Farben gesehen. Ein bestimmter Ton oder ein musikalisches Stück könnte in bestimmten Farben und Mustern erscheinen.
- Lexikalisch-gustatorische Synästhesie
Bestimmte Wörter oder Geräusche lösen Geschmacksempfindungen aus. Ein bestimmtes Wort könnte dabei einen bestimmten Geschmack im Mund hervorrufen.
- Olfaktorisch-visuelle Synästhesie
Bei dieser Form lösen Gerüche visuelle Eindrücke aus, die sich in verschiedenen Formen zeigen können. Ein bestimmter Duft könnte bestimmte Farben oder Formen hervorrufen.
- Farben-Geschmack-Synästhesie
Hierbei lösen Farben Geschmacksempfindungen bei Synästhetikern aus. Der Anblick einer bestimmten Farbe könnte hierbei einen entsprechenden Geschmack hervorrufen.
- Ordinal-Linguistic Personification
Bei dieser Form werden Zahlen, Wochentage, Monate oder andere sequenzielle Konzepte mit Persönlichkeiten oder menschlichen Eigenschaften versehen.
- Sequenz-Raum-Synästhesie
Bei dieser Form sehen Synästhetiker Zahlen, Tage, Monate oder andere Zeiteinheiten oder das Alphabet in spezifischen räumlichen Anordnungen.
- Emotion-Farb-Synästhesie
Hierbei werden bestimmte Emotionen mit entsprechenden Farben verknüpft. Glück könnte als Gelb, Trauer als Blau und Wut als Rot wahrgenommen werden.
Häufig gestellte Fragen
Das Stilmittel „Synästhesie“ ist die Verknüpfung, Verschmelzung oder Kombination von unterschiedlichen Sinneswahrnehmungen.
Ein bekanntes Beispiel wäre der Vers eines Weihnachtsliedes: „Süßer die Glocken nie klingen als zu der Weihnachtszeit“. Hier wird ein Geschmack („süß“) mit Geräuschen verglichen.
In der Literatur bewirkt das Stilmittel eine Intensivierung und Versinnlichung verschiedener Wahrnehmungen. Es können intensive und eindrucksvolle Bilder erschaffen werden, die eine starke emotionale Wirkung beim Leser herbeiführen.